Nov 18, 2020
Petra und Jens* sind nun seit einem Jahr bei mir in der Paartherapie, ihre Ehe stand kurz vor dem Aus. Es gab zu viel Streit, zu viele Missverständnisse und zu wenig positive Erlebnisse. Da beide gewillt waren, an dieser Situation etwas zu verändern, machten sie große Fortschritte. Im Frühjahr war es dann soweit und wir waren uns einig, dass sie ihren gemeinsamen Weg nun alleine weiter gehen können.
Im August rief mich Petra überraschenderweise an. Sie teilte mir mit, dass Jens sich immer weiter zurückzog und sie schreckliche Angst davor hatte, dass sie geradewegs in das nächste Tief steuern.
Also vereinbarten wir einen weiteren Termin. Schon bei der Begrüßung bemerkte ich, dass Petra sehr unsicher war. Jens war das krasse Gegenteil, von ihr aber auch von dem Jens von vor eineinhalb Jahren. Er schien völlig gelassen zu sein.
Mit ruhiger Stimme erzählte er, dass ihn der Lockdown und die ganze verrückte Situation im Außen zu schaffen macht. Und dass er bemerke, dass er deutlich mehr Zeit für sich alleine brauche als früher. Für mich eine völlig nachvollziehbare Situation, für Petra nicht.
Denn ein essentieller Bestandteil der Paartherapie war, dass beide regelmäßig in Kommunikation gehen und in dieser offen und ehrlich sind. Durch die neuen Rahmenbedingungen konnte und wollte Jens dies derzeit jedoch nicht. Doch eines war klar für ihn: mit Petra hatte es nichts zu tun. Und das glaubte ich ihm.
Da er dies jedoch eben nicht mit Petra besprach, wurde sie getriggert und geriet in Panik. Wir konnten dieses Missverständnis schnell klären und vermutlich brauchen die beiden nun wirklich keine Sitzung mehr.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Derzeit werden uns mehr denn je klare Rahmenbedingungen vorgegeben. Bei einigen von uns stellt sich dadurch eine Art Abwehrhaltung ein. Doch da wir diese nicht nach Außen tragen können, richten wir sie gegen uns selbst.
Jens wusste, wie wichtig die Kommunikation ist, doch innerlich sträubte sich etwas in ihm. Diese ganzen Auflagen und Einschränkungen, die von offizieller Seite an uns herangetragen werden, waren für ihn zu viel. Er wollte sich (unbewusst) nicht an noch mehr Regeln halten müssen.
So etwas beobachte ich auch bei mir und meinem Umfeld. Wir wissen, wie wertvoll Sport, spazieren gehen, meditieren oder gesunde Ernährung sind. Und doch tun wir es nicht. Zumindest nicht immer. Und soll ich euch was verraten? Das ist ok.
All die genannten Sachen sind inzwischen zu einem „Lifestyle“ geworden, an den wir uns doch bitte halten sollen. Zumindest sofern wir dazu gehören möchten. Doch manchmal sind es eben zwei Tage auf der Couch, eine Tafel Schokolade oder eine Tiefkühlpizza, die wir brauchen. Das ist ok, auch das ist Selbstfürsorge.
Druck und Zwang sind nie zielführend. Vielleicht haben wir bisher immer ein super ausgewogenes Leben gelebt. Doch die Rahmenbedingungen haben sich nun geändert. Das soll nicht heißen, dass wir unausgewogen leben sollen. Aber es kann eben sein, dass wir, unser Körper oder unsere Seele gerade andere, neue Bedürfnisse haben.
Deshalb ist es wichtig, nicht das zu tun, was gut wäre. Sondern das zu tun, was gut ist. Für uns, in diesem Moment. Und sobald wir diesen Zwang weglassen, merken wir ganz plötzlich, wie sich Erleichterung einstellt und wie gut unser Körper und unsere Seele mit uns kommunizieren.
*Namen frei erfunden