Oct 14, 2020
Welche von beiden ist denn nun die richtige? Selbstverständlich gehen wir immer davon aus, dass wir eine Situation korrekt einschätzen, dass wir die sind, die bei einer Auseinandersetzung die richtige Sichtweise haben. Unser Gegenüber tut dies jedoch meist auch. Und das führt dann dazu, dass sich bei einem Streit zwei Erwachsene gegenüber, die fest entschlossen sind, ‚ihre‘ Wahrheit dem anderen überzustülpen. Meist scheitern diese Versuche jedoch kläglich, ist der andere doch ebenfalls von seiner überzeugt.
Beharren nun beide auf ihrer naturgemäß sehr subjektiven Wahrheit, wird sich das Problem nicht auflösen. Der Schlüssel liegt darin, sich in den anderen hineinzuversetzen. Klingt simpel, ist es aber nicht. Und schon gar nicht, wenn wir emotional aufgeladen sind, was in den meisten Streitfällen der Fall sein dürfte.
Hier ein Beispiel aus meiner Praxis. Bei Norman und Annette* gibt es einen großen, zentralen Streitpunkt in ihrer Ehe. Kinder. Sie möchte sehr gerne welche haben, er nicht. Mit seinen zwei Söhnen aus erster Ehe hat er die Familienplanung bereits abgeschlossen.
Jede Diskussion verläuft gleich. Sie liefert ihm unzählige Argumente, warum sie unbedingt Kinder möchte und warum auch er davon profitieren würde.
Er versucht jegliches Gespräch, welches in diese Richtung tendiert, direkt im Keim zu ersticken. Da Annettes Wunsch jedoch so groß und mächtig ist, gelingt ihm das selten.
In einer solchen Diskussion angelangt, versucht er stetig ihr klar zu machen, warum er eben keine Kinder mehr möchte und dass das nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun hat.
Das Problem ist, dass sie zwar hört, was er sagt, sie versteht es aber nicht. Ebenso wenig wie er ihr Anliegen tatsächlich begreift. Dies liegt hauptsächlich daran, dass beide so damit beschäftigt sind, ihre Sichtweise darzulegen und diese zu verteidigen, dass kein Raum mehr für das eigentlich Wesentliche einer Partnerschaft bleibt. Gegenseitiges Verständnis.
Ein weiteres Problem ist, dass uns regelmäßige Auseinandersetzungen über ein immer wiederkehrendes Thema emotional abstumpfen lassen. Irgendwann sind wir diese Diskussionen so leid, dass wir uns innerlich verschließen, was die ganze Beziehung leiden lässt.
Kommen wir erneut zum Schlüssel, mit dem wir die bereits verschlossene (innere) Tür wieder öffnen können. Dem Verständnis.
Dazu ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und sich in die Rolle unseres Gegenübers hineinzuversetzen. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn unser Verstand/Ego versucht natürlich direkt einzuschreiten und uns 1000 Gründe zu nennen, warum die Bedürfnisse des anderen weniger ins Gewicht fallen als unsere eigenen. Mit genügend Achtsamkeit und dem festen Willen, auch die andere Seite erspüren und erfahren zu wollen, wird es uns jedoch gelingen.
Was würde ich an seiner/ihrer Stelle tun? Was macht eine solche Diskussion mit ihm/ihr?
Wie muss es meinem Gegenüber gehen, wenn er immer wieder das Gleiche zu hören bekommt, wenn er immer wieder gegen (m)eine verschlossene Tür läuft, wenn er das Gefühl hat, dass seine Wünsche nicht wichtig genug sind?
Dieser Perspektivwechsel wird garantiert einiges verändern. Er wird nicht die Lösung aller Probleme sein und bei zu unterschiedlichen Auffassungen eines fundamentalen Themas bleibt tatsächlich oft nur die Trennung. Doch bei vielen anderen Diskussionen, sei es in der Beziehung, im Job, der Familie oder bei Freunden, kann uns dieser neue Blickwinkel eine Tür öffnen, hinter der es ganz neue Optionen gibt, die für beide vorstellbar sind.