May 08, 2017
Selbstliebe-Defizit
Vielen Menschen ist intuitiv klar, dass Erfolg in Beziehungen nicht nur mit der anderen Person oder Glück und Pech zu tun hat. Es gibt auch einige Bücher, die dieses Thema beleuchten im Sinne von „wenn du dich magst, mögen dich auch andere“ bzw. „wenn du dich nicht liebst, wer soll dich dann lieben“.
Es ist viel Wahrheit drin in diesen Leitsätzen, dennoch sitzt das Thema viel, viel tiefer als man gemeinhin denkt. Jeder würde erstmal sagen, „natürlich mag ich mich und will mein Bestes“. Aber leider sitzen darunter oft tiefsitzende Glaubenssätze und Gedankenmuster, die nicht bewusst sind und doch eine ganz andere, negativere Sprache sprechen. Hier sitzen Muster wie „ich bin nicht gut genug“, „ich muss ganz viel tun, um geliebt zu werden“ oder „ich bin es nicht wert, wirklich geliebt zu werden“.
Menschen, die mit diesen Muster durch das Leben laufen, sind häufig „Geber“ in Beziehungen. Sie geben mehr Liebe, Anerkennung und Bestätigung als sie bekommen. Sie geraten auf magische Art immer wieder an „Nehmer“, und versuchen diese verzeifelt zu ändern, anstatt die Beziehung zu verlassen.
Für dieses Syndrom gibt es den etwas unschönen Begriff „ko-abhängig“, weil er ursprünglich die Dynamik von Partnern von Alkoholikern in Beziehungen beschreibt, die alles versuchen, den anderen vom Alkohol-Problemen abzubringen, und doch immer nur das Gegenteil erreichen. Heute benutzt man den Begriff viel weiter auf alle Arten von Beziehungen, wo ein Partner Süchte oder schwierige Persönlichkeitsanteile hat und der Andere diese versucht auszuhalten.
Ko-abhängige haben gemein, dass sie andere wichtiger nehmen als sich selber. Deshalb spricht man neuerdings gerne auch von einem Selbstliebe-Defizit, was den Punkt eigentlich viel genauer trifft. Dennoch ist auch ein Mensch mit einem Selbstliebe Defizit nicht zwingend ein „Gutmensch“.
Dieser bohrende Mangel entsteht in der Kindheit, typischerweise wenn Eltern(teile) mal Liebe gegeben haben und mal nicht verfügbar waren. Dann entsteht kein stabiles Urvertrauen, sondern Angst. Das Kind fragt sich automatisch, was mit ihm Nivht in Ordnung ist. Wir als „Herdentiere“ erleben Ausgeschlossen-Sein insbesondere in der Kindheit als extrem bedrohlich. Das ist in unseren Genen.
Das innere Kind ist keine pseudo-esoterische Phantasiegestalt, sondern definitive Realität. Wenn das innere Kind verletzt ist, übernimmt es gerne das Steuer im Erwachsenen. Wie magisch zieht man dann der Kindheit ähnliche Situationen an, nur in der Hoffnung dass sie diesmal anders ausgehen.
Leider gibt es aber nur eine Phase im Leben, in der man Liebe von außen in sich ansammeln kann, und das ist in der Kindheit. Wenn man Angenommenen-Sein, Bestätigung, Selbstwert im außen sucht (insbesondere in Liebesbeziehungen), kann das nur zeitweise gut gehen. Das Außen ist immer temporär. Zudem sucht man sich gerade als Liebeshungriger paradoxerweise impulsiv immer wieder Liebesvermeider, weil diese den „Stallgeruch“ der Kindheit haben.
Viele Menschen, die aus schmerzhaften Beziehungen kommen, haben danach einen noch schlimmeren Liebeskummer. Liebeskummer ist aber eigentlich eine Reise in die Vergangengenheit, direkt zu den Wunden des inneren Kindes. Jetzt hat man die Chance, als Erwachsener für das innere Kind da zu sein, und nicht wieder verzweifelt wieder jemand zu suchen, der das für einen übernimmt. Das geht leider nur über das Aushalten der „Symptome“ wie Einsamkeit, Angst und Leere. Jetzt kann man lernen, sein Leben auch ohne Partner richtig voll und spannend zu machen.
Insofern ist Selbst-Liebe vor allem das Aushalten seiner eigenen inneren Welt, sich selber das geben, was einen glücklich macht. Das kann sich zeitweise etwas anfühlen wie Möhren essen anstatt Pizza und Pommes, ist aber definitiv nachhaltiger.
Ein guter Zeitpunkt für eine neue Beziehung ist dann gekommen, wenn man als Single zufrieden ist. Auf der anderen Seite ist auch Dauersingle sein manchmal eine Art selbstauferlegter Diät. Nicht immer kann man wählen, aber wie so oft ist ein Weg der Mitte besonders ratsam.