May 04, 2021
1973 gab es eine mehrtägige Geiselnahme in Stockholm. Nach einem Banküberfall nahmen die Bankräuber mehrere Geiseln und hielten sie in einem Tresorraum fest.Tagelang schwebten die Geiseln zwischen Leben und Tod, da auch die Polizei gewaltsame Befreiungsaktionen plante.
Als die Geiseln schließlich befreit wurden, waren sie wütender auf die Polizei als auf die Geiselnehmer. Sie baten um Gnade für sie und besuchten sie im Gefängnis. Eine von ihnen führte sogar später eine kurze Beziehung mit einem der Bankräuber.
Die Situation war natürlich komplex. Man wusste noch nicht so viel über den Umgang mit solchen Situationen. Aber es kam bei anderen Verbrechen noch häufiger vor, dass Opfer für ihre Peiniger begannen Gefühle zu empfinden. Wie kann so etwas Widersinniges passieren?
In der Szene der Beratung bei toxischen Beziehungen kursiert dazu folgender Witz: „Wie machst du jemand sicher verliebt in dich? Du sperrst ihn in den Keller bei Brot und Wasser und wartest bis das Stockholm-Syndrom einsetzt.“
Dieser zugegebenermaßen drastische Witz reflektiert die Ratlosigkeit von Angehörigen von Menschen in hoch-toxischen Beziehungen. Diese Menschen leiden offenbar unsäglich und wortreich unter dem grenzüberschreitenden Verhalten ihrer Partner, und doch scheinen die positiven Emotionen noch stärker zu sein. Eine Trennung kommt schon gar nicht in Frage. Und man muss sagen, es reflektiert auf eine gewisse Weise auch den Frust von „netten“ Menschen, die das Gefühl haben, trotz oder gerade wegen ihre Nettigkeit weniger Chancen zu haben auf dem Dating-Markt.
Tiefenpsychologisch wird dieses Thema als „Identifikation mit dem Aggressor“ thematisiert. Es ist nicht vollständig erforscht, aber es scheint eine Art unbewusster Überlebensmechanismus zu sein, um eine Bindung herzustellen und damit den Aggressor zu besänftigen. Außerdem scheint es oft sicherer zu sein, sich mit den „Siegern“ zu identifizieren als mit den Opfern. Dies kann übrigens auch für familiäre Systeme gelten. Zudem spielt sicherlich die Gehirnchemie mit rein. Der schnelle Wechsel von extremer Angst und dann wieder beruhigt und getröstet werden von der gleichen Person, die die Angst eigentlich erzeugt hat, löst einen extremen Cocktail im Gehirn aus. Dieser hebelt ein rationales Einschätzen der Situation leicht aus.
Auch in hoch-toxischen Beziehungen kann so eine Dynamik wie beim Stockholm-Syndrom gewissermaßen „im Kleinen“ geschehen. Lügen, Fremdgehen und / oder emotionale Manipulation werden ausgeblendet, um weiter in einer Phantasiewelt zu leben, in der alles irgendwie gut werden wird. Die Ursache liegt, wie so oft, meist in einer sehr problematischen Kindheit.
Der Begriff des Stockholm-Syndroms in toxischen Beziehungen ist sehr griffig und erklärt auch vieles in diesen Dynamiken. Dennoch fördert er auch das Opfer-Denken der Beteiligten. Opfer-Denken zeigt sich dann, wenn man irgendwann selber nur noch darum kreist, wie „gemein“ der Partner war oder ist (was durchaus sein kann), aber seinen eigenen Anteil nicht sieht. Es ist im Leben nämlich oft gerade nicht so wie in Stockholm, als Menschen wirklich zufällig in die Geiselnahme gezogen wurden. In den meisten hoch-toxischen Verbindungen hat es schon frühe Hinweise gegeben, dass das Ganze auf keinem guten Weg ist. Oder die Anlage der Beziehung (zum Beispiel als heimliche Affäre) ist vom Start her schon hochproblematisch gewesen. In unserer Zeit geht es immer mehr darum, Verantwortung für sich zu übernehmen. Das gilt immer für beide Seiten in einer Beziehung. Wir können versuchen, uns eine schlimme Beziehung mit psychologischen Werkzeugen zu erklären und das ist auch extrem wichtig. Es wird uns aber nicht weiterbringen, uns selber als reine Engel zu sehen und alle Schuld dem Anderen zuzuschreiben.
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